Freitag, 19. September 2014

Der Baum der einsam war

Hinter einem Haus, ebenerdig mit dessen Kellerausgang, standen zwei  dicke, hohe, alte Eichen nebeneinander. Sie ragten weit über den  Dachgiebel des zweistöckigen Einfamilienhauses hinaus und spendeten den  Menschen Schatten und Trost und den Tieren Futter. Sie gehörten einfach  hier her.

Eines Tages veränderte sich alles. Ein dicker Ast einer der Eichen  hätte fast das Dach des Hauses eingedrückt. Deshalb wurde gleich der  ganze Baum gefällt. Jetzt war die zweite Eiche sehr einsam und traurig.  Sie stand ganz verloren, die Schatten die sie warf waren unvollständig.  Und der Trost den Menschen hier gefunden hatten, stellte sich bei diesen  auch nicht mehr ein, deshalb kamen sie auch nicht mehr hierher.

Da beschloss der Baum, auf Wanderschaft zu gehen und sich einen neuen  Gefährten zu suchen. Er knarrte ganz schön, wenn er sich bewegte und  wegen seiner Größe musste er das auch ganz langsam tun, um kein  Übergewicht zu bekommen. Seine Krone bewegte sich bei jedem Schritt hin  und her. Aber voller Hoffnung schob er sich weiter, der untergehenden  Sonne entgegegen.

Der knorrige Eichenbaum traf auf Erlen und Birken, auf Tannen und Fichten,  ganze Wälder waren voll mit Nadelbäumen, aber er traf keinen seiner Art  und nirgends fühlte er sich so richtig wohl.
Und wieder war der Baum sehr traurig und fühlte sich einsamer denn  je. Er änderte seine Richtung und kam zu einer großen Stadt. Da der  Verkehr dort sehr stark war, konnte er sich nur ganz langsam vorwärts  bewegen und so hatte er Zeit, sich genauer umzusehen. Er sah Menschen,  die vorüberhasteten, keiner hatte Zeit und auch sie sahen irgendwie  traurig und einsam aus.

Die Eiche kam zu einem kleinen Park. Hier gab es Büsche, Wiesen und  viele verschiedene Bäume, die den Menschen Schatten spendeten, ihnen  Trost gaben und den Tieren Futter und sie beschloss, hier zu bleiben,  denn das gefiel ihr sehr. Die Vielfalt war hier äußerst reizvoll. Die  Eiche hatte zwar keinen Artgenossen gefunden, aber zusammen mit den  anderen Bäumen erfüllte sie wieder sehr wichtige und  verantwortungsvolle Aufgaben - und sie fühlte sich nicht mehr allein!

© Petra Schuster
Nürnberg, 26.04.2004

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